· 

"Inter*" - ein Kommentar von Joris Gregor

Intersexualität ist ein medizinischer Begriff, der in aktivistischen Kreisen möglichst vermieden wird. Das gleiche gilt für Hermaphroditismus oder Pseudohermaphroditismus. Inter* Aktivist*innen sind sehr kritisch mit der Medizin, viele haben schlimme Erfahrungen mit uneingewilligten Operationen oder Medikamentengaben, also irreversiblen Eingriffen in ihre Körper gemacht. Das ist ein wichtiger Grund, warum sich Inter* Aktivist*innen begrifflich zu den medizinischen Begriffen abgrenzen.

 

Mittlerweile wird im deutschen meistens der Begriff Inter* oder Intergeschlechtlichkeit benutzt. Im englischen wird ‚intersex‘ verwendet. Der Gegenbegriff ist endogeschlechtlich (vor allem im deutschsprachigen Raum; von der inter* Aktivist*in Heike Boedecker ‚erfunden‘) oder dyadisch (dyadic; aus dem englischen).

 

Das körperliche Merkmale beider Geschlechter gleichermaßen nebeneinander in einem Körper vorhanden sind, geschieht in Einzelfällen. Es kommt vor, ist aber eine der selteneren Formen von

 

Inter*. Um voyeuristischen Interessen nicht nachzukommen sage ich, statt Körpermerkmale zu beschreiben, dass bei inter* Menschen sowohl männlich zugeordnete als auch weiblich zugeordnete Körpermerkmale vorkommen, und das in allen erdenklichen Kombinationen. Die häufigsten Formen sind eher unauffällig. Ein Beispiel ist die komplette oder partielle Androgenresistenz (cAIS oder pAIS): Diese Menschen werden bei der Geburt als Mädchen diagnostiziert, und oft fällt erst auf, dass sie inter* sind, wenn sie nicht menstruieren und/oder keine entsprechende Körperbehaarung einsetzt. Dann erkennt oft dier Gynäkolog*in bei der ersten Ultraschalluntersuchung, dass es keinen Uterus gibt und es sich bei den Keimdrüsen (auch Gonaden) nicht um Eierstöcke handelt, sondern um hodenähnliche Keimdrüsen (die aber wärmeresistenter als cismännliche Hoden sind). Menschen mit cAIS/pAIS nennen sich selbst ‚XY-Frauen‘ (https://xy-frauen.de/).

 

 

Ein zweites Beispiel:

 

Andere Menschen werden bei der Geburt als männlich diagnostiziert, aber ihre Hoden wollen nicht absteigen. Wenn die Gonaden dann ins Skrotum verlegt werden, entdecken die Mediziner*innen manchmal Anlagen für einen Uterus – der nicht selten heimlich entfernt wird. Im Alltag sind diese Menschen Männer, die halt nach der Geburt einen Hodenhochstand hatten, der sich auch mit Medikamenten nicht beheben ließ.

 

Es wäre aus körpertherapeutischer Sicht spannend, das mal wirken zu lassen: Was sagt uns das, wenn Körpervorgänge, die wir als ‚normal‘ einordnen, auch nach Medikamentengabe partout nicht passieren (wollen)? Handelt es sich dann wirklich um einen endo cis mann mit Hodenhochstand? Oder sagt uns der ausbleibende Abstieg der Keimdrüsen vielleicht, dass es so einfach nicht ist? Wo fängt Intergeschlechtlichkeit an, wo beginnt Endogeschlechtlichkeit?

 

Körper sind ein riesiges Netzwerk aus Vorgängen, Zusammenhängen und Beziehungen. Das heißt auch: Sie sind eigentlich viel zu komplex, um sie in binäre Kategorien zu pressen.

 

Das große Problem sind die irreversiblen Eingriffe in die inter* Körper (OPs und/oder Medikamentengabe), die oft ohne Einwilligung der Menschen passiert sind und weiterhin passieren.

 

Inter* Aktivist*innen kämpfen seit den 1990er Jahren für ihre Menschenrechte auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit. Es gibt nur wenige Inter*-Formen, bei denen wirklich medizinisch eingegriffen werden muss, weil die Gesundheit oder das Leben eines Kindes bedroht ist. In den allermeisten Fällen handelt es sich um kosmetische Eingriffe, um den Körper eindeutig männlich oder weiblich erscheinen zu lassen. Beispiele für leensbedrohliche Inter* Variationen wären, wenn die Harnröhre nicht vorn am Schaft des Penis‘ endet (Hypospadie) und der Ausgang so eng ist, dass er einen Urinstau verursacht (was längst nicht in allen Fällen passiert). Oder wenn ein Adrenogenitales Syndrom (AGS) mit Salzverlust vorliegt, dann müssen die Kinder lebenslang Cortisol einnehmen.

 

Der offene Geschlechtseintrag ist ein Ergebnis der Stellungnahme Intersexualität (https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/DER_StnIntersex_Deu_Online.pdf) des Ethikrates. Er wurde bereits im Dezember 2013 eingeführt mit der Absicht, Kindern, denen bei der Geburt kein Geschlecht zugewiesen werden konnte, Zeit zu verschaffen und vor verfrühten Eingriffen zu schützen. Faktisch wurden diese Kinder von da an einfach als ‚geschlechtsentwicklungsgestörte Jungen/Mädchen‘ diagnostiziert, um die Eingriffe zu rechtfertigen; das zeigt die Studie von Ulrike Klöppel (https://www.gender.hu-berlin.de/de/publikationen/gender-bulletin-broschueren/bulletin-texte/texte-42/kloeppel-2016_zur-aktualitaet-kosmetischer-genitaloperationen).

 

Seit März 2021 gibt es das Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung (mehr Infos: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2021/kw12-de-geschlechterentwicklung-kinder-830122); ob es die Kinder wirklich schützt oder wieder, wie nach der Stellungnahme des Ethikrates, einfach neue Wege der Diagnostik und Diagnoseschlüssel gefunden werden, um die (äußerst lukrativen) OPs trotzdem durchzuführen, bleibt abzuwarten.

 

Die Sachen, die Du zu den OPs schreibst, gelten bis heute. Dass Säuglinge möglichst früh operiert werden, wird damit begründet, dass die Eltern(!) ein eindeutiges Genital sehen sollen, wenn sie die Kinder wickeln, weil sie dann nicht verunsichert werden und das Kind entsprechend erziehen können.

 

Eingeführt hat diesen vulgärpsychoanalytischen Unsinn John Money (übrigens der gleiche, der das wirklich wichtige sexualwissenschaftliche Buch Love Maps verfasst hat), der zusammen mit seinem Team in Baltimore in den 1950ern Experimente an inter* Menschen durchgeführt hat und das so genannte Baltimorer Behandlungskonzept eingeführt hat, das sich dann recht schnell im globalen Norden und den kolonialisierten Gebieten des globalen Südens durchgesetzt hat. In Deutschland wurde noch bis in die 1970er/80er nach Absprache mit den Betreffenden entschieden, danach setzen sich die frühkindlichen Operationen durch.

 

Unterschied von Trans* und Inter*:

 

Trans* bedeutet, dass eine Person sich mit den bei der Geburt diagnostizierten Geschlecht nicht oder nur teilweise identifiziert. Damit könne auch Inter* trans* sein. Da wird’s jetzt aber wirklich individuell und kompliziert: Manche inter* empfinden ihre Geschlechtsanpassung als ‚Korrektur, weil es eine falsche Geschlechtszuordnung bei der Geburt gab, andere empfinden sich als trans* und verstehen den Prozess als Transition. Da kommt es sehr auf das Selbstverständnis der einzelnen Person an – und auf die Inter*-Variation, denn manche inter* können wegen ihres Hormonstoffwechsels gar nicht im klassischen Sinne transitionieren. (Die oben erwähnten ‚XY-Frauen‘ fordern, wenn ihre Keimdrüsen ohne informierte Einwilligung entfernt wurden, heute oft Testosteron als Hormonersatztherapie ein, weil ihr Körper das Hormon ursprünglich produziert und erst dann zu Östrogenen umgebaut wurde. Oft geht es ihnen mit dieserForm der Hormonersatztherapie viel besser).

 

Anm. von mir: Hier findet ihr die Homepage von Joris, die noch im Aufbau ist. Ansonsten guckt gerne hier vorbei um weitere Informationen zu bekommen.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0